Viktor Alekseevič Vazjulin, ein herausragender revolutionärer sowjetischer Denker ist verstorben.

 

Heute, am 08.01. 2012 um 18 Uhr Moskauer Zeit blieb das Herz des großartigen revolutionären sowjetischen Denkers Viktor Alekseevic Vazjulins stehen.

Vazjulin (geb. am 30.08.1932 in Moskau), Professor der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität , hob sich durch sein wissenschaftliches Werk als ein führender marxistischer Denker von internationaler Bedeutung ab und leistete einen entscheidenden Beitrag auf dem Gebiet der Philosophie, der Logik und Methodologie der Gesellschaftswissenschaften. Mit der dialektischen Aufhebung der Errungenschaften der bisherigen historischen Form der Marxismus eröffnete er eine neue Entwicklungsetappe.

In meinen Augen handelt es sich um den einzigen Denker nach Marx, der einem – in der Begegnung mit seiner schöpferischen Kraft – den Eindruck vermittelte, in seinem Geist denke die Menschheit. 

Indem Vazjulin die Prozesse der Entwicklung der Sowjetgesellschaft und der Menschheit parallel mit der kritischen Verarbeitung des Marxismus und der klassischen sowjetischen Philosophie und Wissenschaft der 1950-1960er Jahre erforschte, schuf er eine originelle Richtung auf dem Gebiet der Gesellschaftstheorie, der dialektischen Logik und Wissenschaftsmethodik. Sein Werk war in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus.

Zu Vazjulins wissenschaftlichen Entdeckungen gehören die folgenden:

  1. Die Aufdeckung der dialektischen Logik des theoretischen Teils des „Kapitals“ von Karl Marx durch die systematische kategoriale Untersuchung des politökonomischen Materials mit der parallel dazu vorgenommenen Analyse der „Wissenschaft der Logik“ von Hegel (in der Monographie „Die Logik des ‚Kapitals’ von Karl Marx“, Moskau 1968, 2002). Das ermöglichte ihm die Methode einer entwickelten wissenschaftlichen Untersuchung, einer entwickelten Wissenschaft von einem organischen Ganzen zu erarbeiten. Im Rahmen dieser Logik und Methode wird das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten in „reiner Form“ und in Einheit mit dem Aufsteigen vom Sinnlich-Konkreten zum Abstrakten herausgearbeitet, das Logische in Einheit mit dem Historischen, Vernunft in Einheit mit dem Verstand.
  2. Das konkret-historische Herangehen an die Wissenschaft und an den Marxismus als erster wissenschaftlichen Form einer synthetischen Wissenschaft, die als wissenschaftliches System verstanden wird, das sich über die Entstehung und Lösung von gesetzmäßigen Widersprüchen entwickelt, und zwar ein System unterschiedlicher, aber innerlich zusammenhängender Bestandteile, von denen sich ein jeder auf einem bestimmten Niveau seiner Entfaltung und Entwicklung befindet. Die logisch-historische Untersuchung der Geschichte des Marxismus (vom Standpunkt der Methode der Politischen Ökonomie des Kapitalismus als des am höchsten entwickelten Bestandteils) erlaubte es Vazjulin, erstens, die Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche (die notwendigen Irrtümer u.a. eingeschlossen) bei der Herausbildung einer wissenschaftlichen Forschung aufzudecken, d.h. der Bewegung des erkennenden Denkens von der Oberfläche zum Wesen des Gegenstandes, und, zweitens, seine eigenen Forschungsaktivitäten auf die perspektivreichste Richtung der Entwicklung des Marxismus zu konzentrieren (in der Monographie „Die Genesis der wissenschaftlichen Forschungsmethode von Karl Marx (logischer Aspekt)“, Moskau 1975).  Die genannten Entdeckungen hängen innerlich zusammen mit seinem Ansatz, das wissenschaftliche Denken als gesetzmäßigen, naturhistorischen Prozess aufzufassen.                                                                                              
  3. Die schöpferische Entwicklung der Forschungsmethode von Marx machte es möglich, dass Vazjulin den inneren systematischen Zusammenhang der Kategorien und Gesetze einer gesellschaftlichen Theorie aufdecken konnte, die in der Lage ist, die Struktur einer reifen Gesellschaft zu erfassen. Zugleich konnte er damit eine theoretische Periodisierung der Menschheitsgeschichte vorstellen (die Gesetzmäßigkeiten ihres Anfangs, ihrer Urbildung, ihrer Formierung und Reife, des Kommunismus), und zwar durch das Prisma der Wechselwirkung des natürlichen und des sozialen Faktors, womit er die materialistische Geschichtsauffassung und den Klassenansatz dialektisch aufhob. 

            Vazjulins wissenschaftliche Entdeckungen, besonders die der Logik der Geschichte,      schufen die Möglichkeit einer im Vergleich zum klassischen Marxismus besser            begründeten und gesicherten Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der    Gesellschaftsentwicklung. Zugleich eröffneten sie die Etappe der nachfolgenden             dialektischen Entwicklung des Marxismus durch die „Aufhebung“ des historischen        Materialismus und des Formationsansatzes (in der Monographie „Die Logik der         Geschichte. Fragen der Theorie und Methode“, Moskau 1988, 2005).

Vazjulins Logik der Geschichte stellt nach dem „Kapital“ von Marx theoretisch und methodisch den umfassendsten und konsequentesten Versuch dar, die wissenschaftlichen Errungenschaften der Philosophie und Sozialtheorie dialektisch aufzuheben. Durch dieses Werk wird ein neuer Typ der Bestimmung der gesetzmäßigen Perspektive einer revolutionären Vereinigung der Menschheit, der Notwendigkeit des Erreichens der kommunistischen Gesellschaft für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit vorgenommen.

Das strategische Ziel der revolutionären Bewegung lässt sich danach nicht mehr nur hauptsächlich über die Negation der Gegenwart (des Kapitalismus) bestimmen, nicht als abstrakte humanistische Schau eines sittlichen Imperativs, sondern in erster Linie positiv, durch Konkretisierung und Aufdeckung der realen, faktischen, gesetzmäßigen Herausbildung und Entwicklung der Menschheit. Nicht zufällig funktioniert dieser Ansatz bereits auf internationaler Ebene als theoretische und methodische Grundlage eines vielschichtigen Spektrums von Forschungsprojekten. Weder die Popularität seiner Arbeiten, die in mehreren Sprachen herausgegeben wurden, noch die vielzähligen bibliographischen Nachweise sind Zufall. Und ebenso wenig zufällig wächst der Einfluss dieses Ansatzes gerade in den Reihen der revolutionären Jugend.

Die prognostische Kraft der Theorie und Methode von Vazjulin wurde seit den 1970er Jahren nicht nur einmal unter Beweis gestellt. Der theoretische Ansatz der Logik Geschichte ermöglichte es, fundamentale Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen und zu durchdenken, wie z.B. die Frage

-          nach den Bedingungen, Grenzen, Widersprüchen von „frühsozialistischen“ und spätsozialistischen Revolutionen,

-          nach dem Widerspruch von extensiver und intensiver Entwicklung der Produktivkräfte,

-          nach dem Widerspruch von formeller und reeller Vergesellschaftung der Produktion

-          nach den Ursachen des Sieges der kapitalistischen Konterrevolution und Restauration im Gegensatz zu deren vorherrschender Reduktion auf den subjektiven Faktor

-          nach den spezifischen Gesetzmäßigkeiten des neuen Stadiums des Imperialismus eines globalisierten Kapitalismus,

-          nach den Perspektiven der Menschheit, nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, Strategie und Taktik usw.

Dieser Ansatz gibt einen Schlüssel in die Hand, um die objektiven Ursachen der dramatischen Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu verstehen, wie auch einer ganzen Reihe anderer gesellschaftlichen Erscheinungen, indem er ein ganzes Spektrum von Forschungsrichtungen und –projekten eröffnete.

Vazjulins Konzeption entstand in einer ganz bestimmten historischen Erkenntnissituation als „wissenschaftlicher Versuch einer Revolutionierung der Wissenschaft“ und als theoretisches Nachdenken über die wichtigsten Bedürfnisse der Menschheit. Die Gegenwart diktiert die Notwendigkeit der künftig wohl noch fundamentaleren Aufdeckung des erkenntnistheoretischen und heuristischen Potentials dieser Konzeption.

 

Es bleibt zu erwähnen, dass Vazjulins Schaffen auf wissenschaftlichem wie pädagogischen Gebiet aufs Engste verknüpft war mit seiner Position zum Leben. Betätigung für die Gesellschaft und um ihrer selbst willen, der Kampf für die Entwicklung der Menschheit, Prinzipientreue, Würde und Mut gegenüber Machthabern, Zielstrebigkeit, Forscherdrang, uneigennützige Arbeit für die optimale Verwirklichung der aus dieser Lebensposition resultierenden Aufgaben, das sensible und tiefgründige Verständnis der Probleme unter dem Aspekt der Vereinigung der Menschheit, die Bereitschaft jederzeit die Entwicklung und die Entfaltung des eigenen kreativen Potentials seiner Mitmenschen zu befördern  - das waren Eigenschaften der Persönlichkeit von Vazjulin, die in der Kommunikation mit vielen Menschen, besonders aber in der philosophischen Kommunikation mit den Schülern verschiedenster Länder und Kontinente fruchtbar wurden.

Vazjulin hat selbst vorgemacht, wie schwer und zugleich schön es ist, unter den Bedingungen von Gegenangriffen auf die Wissenschaft seitens verschiedener Kräfte, Gruppen und spießiger Neigungen in eben dieser Wissenschaft ein Revolutionär zu sein. Und um wieviel komplizierter noch es ist, sich der Lebenswichtigkeit der Entwicklung der Gesellschaftstheorie bewusst zu werden und ungeachtet aller Widerstände dieser zielstrebig seine Anstrengungen zu widmen, ohne dabei die eigene Gesundheit zu schonen.

Von besonderem Interesse sind seine in den letzten beiden Jahrzehnten angestellten originellen und unermüdlichen Forschungen in Richtung einer grundlagentheoretischen Synthese der biomedizinischen Wissenschaften im Rahmen seiner synthetischen Theorie.

 

V.A. Vazjulin war Inspirator und wissenschaftlicher Leiter des internationalen Kollektivs der „Schule der Logik der Geschichte“, die von seinen Schülern, Mitstreitern und Anhängern in verschiedenen Ländern der Welt ins Leben gerufen wurde (vgl.: http://www.ilhs.tuc.gr/).

Sein Name und seine Sache werden noch viele Generationen von theoretischen und praktischen Kämpfern um die Vereinigung der Menschheit inspirieren.

 

Im Namen der Internationalen Schule der Logik der Geschichte (ISLG)

 

Dimitrios Patelis